Neuer Datenskandal: Wir fordern abschreckende Sanktionen gegen die persönlich Verantwortlichen bei der Polizei Bremen

Der Datenschutz-Skandal bei der Polizei Bremen nimmt immer abenteuerlichere Ausmaße an. Dass die Polizei seit Einführung ihres Vorgangsbearbeitungssystem @rtus vor sieben Jahren nicht mehr benötigte Daten offenbar so gut wie nie wieder gelöscht hat, war schon ein dicker Klopper. Vor drei Wochen kam zusätzlich ans Licht, dass wohl auch mehrere hunderttausend Datensätze aus dem Vorgängersystem ISA-Web – also aus den Jahren vor 2014 – immer noch existieren. Eine solch grobe und systematische Missachtung geltenden Rechts ausgerechnet durch die Polizei selbst macht fassungslos. Man fragt sich, was in den Köpfen der Verantwortlichen vorgeht. Ausgerechnet jene, die sich unerschütterlich für „die Guten“ halten, meinen offenbar, über dem Gesetz zu stehen. Jedenfalls dann, wenn dieses Gesetz lästig ist und man findet, nicht mit ausreichenden personellen Ressourcen zur Aufgabenerfüllung ausgestattet zu sein. Mit einer solchen Denkweise ist eine Institution, die das staatliche Gewaltmonopol verkörpert, eine Gefahr für den Rechtsstaat.

Extrem sensibel: personengebundene Hinweise

Als wäre das noch nicht genug, sind wir nun auf eine weitere skandalöse Missachtung von datenschutzrechtlichen Bestimmungen durch die Polizei Bremen gestoßen. Auch hier scheint die rechtswidrige Praxis seit Jahren zu bestehen. Es geht um die Beauskunftung von sog. personengebundenen Hinweisen (PHW). Dies sind kurze Schlagworte, die im Zuge jeder Datenabfrage im bundesweiten polizeilichen Informationsverbund als „Warnhinweis“ für die Einsatzkräfte erscheinen. Jede*r Polizist*in bei jeder Verkehrs- oder sonstigen Personenkontrolle kann diese Hinweise sehen oder per Funk mitgeteilt bekommen. Viele dieser Hinweise haben das Potential, stigmatisierend und diskriminierend zu wirken. Sie sind daher seit Jahren umstritten und haben in Bremen mehrmals zu parlamentarischen Anfragen (z. B. hier und hier) geführt.

Demnach waren 2017 allein im Land Bremen über 16.000 Menschen mit Warnhinweisen wie „bewaffnet“, „gewalttätig“, „Ansteckungsgefahr“, „Psychische und Verhaltensstörung“, „Betäubungsmittelkonsument“, „Clankriminalität“ oder „Intensivtäter“ versehen. Bundesweit sind es mindestens 1,5 Millionen. Es liegt auf der Hand, dass jeder Mensch, zu dessen Personalien bei der Polizei der Hinweis „gewalttätig“ oder „Betäubungsmittelkonsument“ hinterlegt ist, in einer normalen Verkehrskontrolle mit einer besonderen Behandlung rechnen darf. Es handelt sich somit zweifellos um besonders grundrechtssensible Daten.

Die allermeisten Menschen wissen aber gar nichts davon, dass sie bei der Polizei entsprechend „markiert“ sind. Denn der Einstufung geht keine überprüfbare behördliche oder gerichtliche Entscheidung voraus. Es versteht sich daher von selbst, dass Personen, über die PHW gespeichert sind, ein Recht darauf haben, dies jedenfalls dann zu erfahren, wenn sie bei der Polizei eine Datenauskunft beantragen. Dem bremischen Gesetzgeber ist Transparenz bei personengebundenen Hinweisen sogar so wichtig, dass er mit Wirkung zum gestrigen Tag die Polizei im Land Bremen gesetzlich verpflichtet hat, Betroffene pro-aktiv über die Speicherung dieser sensiblen Daten zu informieren.

Jahrelange Falschauskünfte

Dementsprechend überrascht mussten wir jedoch feststellen, dass die Polizei offenbar seit Jahren personengebundene Hinweise gegenüber Betroffenen systematisch verschweigt. Nur zufällig und nach mehrmaliger Nachfrage erhielt ein Mitglied der Grün-Weißen Hilfe die Auskunft, dass über ihn die PHW „gewalttätig“ und „Btm-Konsument“ gespeichert sind. Die Polizei Bremen rechtfertigte ihre vorherige Nichtauskunft damit, die PHW würden vom Bundeskriminalamt beauskunftet, da die Daten nicht nur in der sog. Elektronischen Kriminalakte des Landes, sondern auch im bundesweiten polizeilichen Informationsverbund gespeichert seien.

Wenn die Polizei Bremen derartige Hinweise aber zunächst im Landessystem speichert und sie anschließend an den polizeilichen Informationsverbund übermittelt, so trägt sie für beide Vorgänge – also für die Speicherung im Landessystem der Elektronischen Kriminalakte und für die Übermittlung an das BKA – die datenschutzrechtliche Verantwortung. Hierüber ist die Polizei Bremen selbstverständlich auch zur Auskunft nach § 73 des Bremischen Polizeigesetzes (BremPolG) verpflichtet. Das sieht auch die Landesdatenschutzbeauftragte so und hat der Polizei auf unsere Beschwerde hin mitgeteilt, dass die Polizei PHW sehr wohl beauskunften muss.

Diese Auskunftspflicht gilt unabhängig davon, dass darüber hinaus der Polizei Bremen gemäß § 31 Abs. 2 BKAG auch nach der erfolgten Übermittlung ans BKA weiterhin die datenschutzrechtliche Verantwortung für die im Informationsverbund gespeicherten Daten obliegt. Entgegen der Rechtfertigung der Polizei Bremen ist daher insoweit unbeachtlich, dass nach § 84 Abs. 1 Satz 1 BKAG zusätzlich auch das Bundeskriminalamt selbst zur Auskunftserteilung über im polizeilichen Informationsverbund verarbeitete personengebundene Hinweise verpflichtet ist. Zumal § 84 Abs. 1 Satz 2 BKAG hiervon ausdrücklich die Auskunftserteilung „aus dem Landessystem“ unterscheidet, die sich selbstverständlich nach Landesrecht bestimmt.

Der landesrechtliche Auskunftsanspruch besteht im übrigen auch nicht erst seit Inkrafttreten des § 73 BremPolG im Dezember letzten Jahres. Bis Mai 2018 bestand ein entsprechender Auskunftsanspruch aus § 21 des Bremischen Datenschutzgesetzes. Anschließend ergab sich der Anspruch aus der unmittelbaren Anwendung von Art. 14 der sog. JI-Richtlinie, die neben der Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) u. a. den Datenschutz im Bereich der polizeilichen Gefahrenabwehr regelt und bis zum 6. Mai 2018 von den Mitgliedstaaten in nationales Recht umzusetzen war.

Rechtsanwältin Lea Voigt, die das betroffene Mitglied der Grün-Weißen Hilfe vertritt, kommentiert die Beauskunftungspraxis der Polizei Bremen bezüglich personengebundener Hinweise so:

„Die Polizei hat sich sehenden Auges selbst einen rechtsfreien Raum geschaffen, in dem sie eine Kontrolle ihrer Datensammlung nicht zu fürchten brauchte.“

Ordnungswidrigkeitenanzeige der Grün-Weißen Hilfe

All die aufgedeckten Datenschutzverstöße der Polizei Bremen sind nicht nur skandalös, sondern zudem auch bußgeldbewehrt. Die Landesdatenschutzbeauftragte kann gegen die Polizei Bremen als Behörde sowie gegen die persönlich Verantwortlichen Bußgelder in Höhe von jeweils bis zu 50.000 Euro aussprechen. Dies ergibt sich aus § 96 Abs. 1 BremPolG:

„Ordnungswidrig handelt, wer im Anwendungsbereich nach § 59 Absatz 1 personenbezogene Daten, die nicht offenkundig sind, entgegen den Bestimmungen dieses Gesetzes erhebt, speichert, verwendet, verändert, übermittelt, verbreitet, zum Abruf bereithält, löscht, nutzt, abruft, sich oder einem anderen verschafft oder durch unrichtige oder unvollständige Angaben ihre Übermittlung an sich oder andere veranlasst. Ordnungswidrig handelt ferner, wer entgegen den Bestimmungen dieses Gesetzes eine Unterrichtung betroffener Personen unterlässt oder hierbei unrichtige oder unvollständige Angaben macht. Die Ordnungswidrigkeit kann mit einer Geldbuße bis zu fünfzigtausend Euro geahndet werden. Die oder der Landesbeauftragte für Datenschutz und Informationsfreiheit ist Verwaltungsbehörde im Sinne des § 36 Absatz 1 Nummer 1 des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten.“

Anders als im Geltungsbereich der DSGVO sind die Bußgelder auch gegen Behörden und ihre Mitarbeiter*innen möglich. Europarechtlich ist die Landesdatenschutzbeauftragte sogar nicht nur berechtigt, sondern regelrecht aufgefordert, in dieser Angelegenheit Bußgelder zu verhängen – und zwar in abschreckender Höhe:

„Gegen jede natürliche oder juristische — privatem oder öffentlichem Recht unterliegende — Person, die gegen diese Richtlinie verstößt, sollten Sanktionen verhängt werden. Die Mitgliedstaaten sollten dafür sorgen, dass die Sanktionen wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sind, und alle Maßnahmen zur Anwendung der Sanktionen treffen.

(Erwägungsgrund 89 der JI-Richtlinie)

Vor disem Hintergrund hat die Grün-Weiße Hilfe der Landesdatenschutzbeauftragten diese Sachverhalte als Ordnungswidrigkeiten angezeigt und den Erlass eines Bußgeldbescheides in abschreckender Höhe gegen die Polizei Bremen sowie gegen deren persönlich für die vorsätzlichen Datenschutzverstöße verantwortlichen Mitarbeiter*innen beantragt. Wir gehen davon aus, dass die Landesdatenschutzbeauftragte zur weiteren Aufklärung des Sachverhalts die ihr nach § 85 BremPolG und § 46 OWiG zur Verfügung stehenden Ermittlungsbefugnisse nach pflichtgemäßem Ermessen nutzen wird, einschließlich erforderlicher Durchsuchungen und Beschlagnahmungen. Diese Erwartung erstreckt sich auch auf weitere mögliche Ordnungswidrigkeiten im Zusammenhang mit den angezeigten Sachverhalten. Dazu gehört zum Beispiel auch das rechtwidrige Abrufen und die entsprechende Weiterverarbeitung von Vorgangsverwaltungsdaten, die längst hätten gelöscht sein müssen.

Offene Fragen zur Beauskunftungspraxis

Die festgestellten Rechtsverstöße werfen zahlreiche weitere Fragen zur Beauskunftungspraxis der Polizei Bremen auf. Werden weitere Datenarten trotz Auskunftsbegehren verheimlicht? Um das herauszufinden, hat die Grün-Weiße Hilfe bei der Polizei Bremen einen Antrag auf Informationen nach dem Bremer Informationsfreiheitsgesetz gestellt. Über die Antwort werden wir an dieser Stelle berichten.

Update (09.09.2021): Polizei gesteht falsche Rechtsauffassung ein

Die Polizei hat gegenüber Netzpolitik.org, die ausführlich über diesen Fall berichtet haben, nun doch eingestanden, auskunftspflichtig gewesen zu sein:

Die Polizei Bremen hatte hier eine falsche Rechtsauffassung. Nicht nur das BKA war auskunftspflichtig, sondern auch die Polizei Bremen. Dieser Prozessablauf wurde korrigiert. Seit dem 01.09.2021 ist die Polizei Bremen neben vielen weiteren datenschutzrechtlichen Pflichten im Polizeigesetz verpflichtet, Betroffene über die Speicherung von Daten personenbezogenen Daten proaktiv zu informieren. Wir prüfen, ob in zurückliegenden Auskunftsanfragen Informationen an den Antragsteller nachgesteuert werden müssen. In Einzelfällen gab und gibt es aufgrund von Erkenntnissen des Bundes oder des Landes jedoch auch rechtlich definierte Ausschließungsgründe für eine Auskunftgabe.

(Polizei Bremen)