Amtsgericht stoppt szenefälschenden Beamten

Beim Fußball gelten andere Maßstäbe

„Zwei Juristen, drei Meinungen“ heißt es bekanntlich, doch in einer Frage sind sich Strafverteidiger*innen, die desöfteren auch Fußballfälle übernehmen, meist verblüffend einig: Wenn es um (vermeintliche) Straftaten im Zusammenhang mit Fußball geht, werden Bagatelldelikte, die der Polizei normalerweise nicht einmal den Aufwand einer Anzeigenaufnahme wert sind, plötzlich zu schweren Straftaten, die keinesfalls ungesühnt bleiben dürfen. Emotionale Ausraster, die, wenn sie an irgendeinem anderen Ort passiert wären, gegen Geldauflage eingestellt würden, werden ohne Rücksicht auf die knappen Ressourcen der Justiz angeklagt, wenn der Tatort ein Fußballstadion oder dessen Umfeld war. „Gewaltdelikte nach Fußball stellen wir nicht ein“, so die öffentlich bekundete Devise der Staatsanwaltschaft Bremen, mit der sie unumwunden zugibt, mit zweierlei Maß zu messen.

Blinder Verfolgungseifer

Welch Blüten dieser unangemessene Verfolgungseifer mitunter treibt, musste jüngst das Amtsgericht feststellen, als es über die Eröffnung des Hauptverfahrens gegen sechs Angeschuldigte aus der Bremer Ultraszene zu entscheiden hatte. Die Staatsanwaltschaft hatte gegen die sechs Werder-Fans Anklage wegen gefährlicher Körperverletzung erhoben, weil sie beim Heimspiel gegen den SC Freiburg im November 2019 angeblich einen 39-jährigen Mann mitten im Stehplatzbereich der Ostkurve verprügelt haben sollen. So lautete jedenfalls das Ergebnis der polizeilichen Ermittlungen nach der Vernehmung des vermeintlich Geschädigten sowie nach Auswertung der hochauflösenden Videoaufzeichnungen. Die sechs Angeschuldigten waren baff erstaunt, als sie hiervon erfuhren, hatten sie doch die körperliche Auseinandersetzung ganz anders in Erinnerung: Diese ging nämlich von dem angeblichen Opfer aus, das an jenem Tag stark alkoholisiert in der Ostkurve aufkreuzte, diverse Leute anpöbelte und sich gleichsam wie die Axt im Walde benahm. Auch seine spätere Aussage, er habe sich wegen des Vorfalls zwei Tage lang krankschreiben müssen, weil er sich mehrfach habe übergeben müssen, wirkt einigermaßen skurril, da er wenige Stunden nach dem Spiel noch putzmunter auf dem Freimarkt gesehen wurde. Dass die ganze Schilderung des vermeintlichen Opfers überhaupt nicht zu dem passt, was auf den Videos klar zu erkennen ist, scheint Polizei und Staatsanwaltschaft bei ihrem Unterfangen, die bösen Ultras zur Rechenschaft zu ziehen, jedenfalls nicht sonderlich gestört zu haben.

Szenefälschender Beamter

Im Gegensatz zur zuständigen Amtsrichterin, die einigermaßen überrascht gewesen sein dürfte, als sie das mit der Anklage vorgelegte Videomaterial sichtete. Die Auseinandersetzung beginne damit, beschreibt die Richterin das auf dem Video festgehaltene Geschehen in ihrem Beschluss, dass der vermeintlich Geschädigte eine an ihm vorbeigehende Person ohne erkennbaren Grund mit der Faust gegen den Kopf schlägt. „Weshalb die Polizei in ihrer Videoauswertung diesen ersten Schlag nicht erwähnt, obwohl er auf beiden Videos deutlich zu sehen ist, erschließt sich nicht“, merkt sie dazu trocken an.

Dann schlage der vermeintlich Geschädigte wild in alle Richtungen, woraufhin der Angeschuldigte M. schlichtend einzugreifen scheine, stellt die Richterin weiter fest. In der schriftlichen Videoauswertung der Polizei hatte der sogenannte Szenekundige Beamte hierzu schlicht behauptet, M. komme hinzugeeilt und attackiere den Geschädigten.

Das Fazit der Richterin fällt eindeutig aus: Der eindeutige Aggressor sei hier der vermeintlich Geschädigte, während die sechs Angeschuldigten lediglich auf dessen Angriffe reagierten bzw. zu schlichten versuchten. Die Eröffnung des Verfahrens war daher abzulehnen, so der Ende Januar zugestellte und nun rechtskräftig gewordene Beschluss: „Die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen der Angeschuldigten fallen der Staatskasse zur Last.“

„Die Anklage grenzt an Verfolgung Unschuldiger. Man fragt sich, ob Polizei und Staatsanwaltschaft in Bremen nichts Besseres zu tun haben als junge Fans mit falschen Anschuldigungen zu überziehen.“

GWH-Anwalt Rasmus Kahlen aus Göttingen, der einen der sechs beschuldigten Fans vertritt.

Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht

Die szenekundigen Beamten der Polizei Bremen dürften derweil mit dieser neuerlichen Kapriole ihre angekratzte Glaubwürdigkeit innerhalb der bremischen Justiz nicht unbedingt aufgebessert haben. Erst jüngst im November 2022 konstatierte das Amtsgericht durch einen anderen Richter in einem anderen Nichteröffnungsbeschluss wegen eines anderen Vorfalls eine gerichtsbekannte Sehschwäche der SKBs: „Zudem konnten in vergleichbaren Fällen, wie dem Gericht aus eigener Erfahrung bekannt ist, Fehlidentifizierungen durch szenekundige Polizeibeamte nicht ausgeschlossen werden.“ Als Beispiele führte das Gericht Aktenzeichen früherer Verfahren an. Das hier geschilderte Verfahren, aufgrund dessen die Polizei versprach „die Mechanismen zur Identifizierung von Personen zu optimieren“, war nicht darunter.

Nachtrag (14.04.2023): 

Nachdem der Weser-Kurier-Artikel über diesen Sachverhalt für einigen Wirbel gesorgt hatte, gab es auf Veranlassung der Linksfraktion in der Bremischen Bürgerschaft auch eine parlamentarische Aufarbeitung.

In einem schriftlichen Bericht für die Innendeputation heißt es, die Polizei Bremen habe keine Fehler bezüglich der Auswertung des Videomaterials festgestellt.

Laut dem entsprechenden Bericht im Rechtsausschuss sei der Staatsanwaltschaft das Ergebnis der polizeilichen Auswertung der Videoaufzeichnungen „insgesamt stimmig und frei von Auffälligkeiten“ erschienen, so dass sie die Videoaufnahmen selbst nicht gesichtet habe.

Da die Rechtsausschuss-Vorlage den vollen Wortlaut des polizeiliche Aktenvermerks zur Auswertung der Videoaufzeichnung wiedergibt, erlauben wir uns auch den Beschluss des Amtsgerichts im Wortlaut zu veröffentlichen.